Copyright by Jonas Martin Schneider, CH-2006
Manchmal kommt der Winter zu früh. Wenn es bereits im Oktober bis in die Niederungen geschneit hat, oder die ersten Herbststürme schon im September das Laub von den Bäumen fegen. Jetzt haben wir August. Das Thermometer zeigt schwächliche 14° Celsius. Ob er wohl kommt?
Ich sitze draußen unter den Magnolienbäumen, trinke Kaffee und blickte versonnen in den Park hinaus, die kalten Mauern im Rücken. Am Nebentisch sitzen die üblichen Männer, die alten. Karl, Mannfred und der Bernhard. Sie reden. Also, eigentlich ist es bloß Karl, der spricht. Mannfred ist einsilbig und Bernhard spricht nie. Er ist schon lange stumm geworden. Warum, weiß niemand so genau.
„Der Ueli will am Dienstag in den Himmel kommen“, brummt Mannfred. Bernhard guckt. Er raucht eine Zigarette.
„Will der? Er hat nicht zu wollen. Der kommt nicht in den Himmel. Den schicken sie einen Stock tiefer. Weißt du warum? Der raucht doch, der Ueli.“ Karl lacht.
„Na und?“
„Der Herrgott mag sie nicht, die Raucher.“
„Ach so.“
„Er wird ihn in den Lift stecken. In den langen. Jawohl. Wird ihm sogar das Knöpflein drücken. Der Ueli ist ja im Rollstuhl. Komfort und so soll es in diesen Liften  nicht geben. Ist ja auch nur Mittel zum Zweck. Aber vielleicht hat er auch Glück, der arme Tropf. Hab gehört, man sei nicht mehr im Rollstuhl im Himmel. Aber von der Hölle hab ich so was nicht gehört. Mit Rheuma soll es scheußlich sein da unten! Na ja, jetzt ist es zu spät für den Ueli.“
„Zu spät.“, brummt Mannfred. Er lacht nicht. Bernhard schaut Karl an. Der Rollstuhl knarrt unter seinem Gewicht. Mannfreds Rollstuhl knarrt nicht. Er ist neu.
Karl schaut an den Himmel. „Die Sonne ist verschwunden. Ist dir kalt, Bernhard? Willst du was überziehen?“
Bernhard sagt nichts. Sein Pullover liegt unter dem Rollstuhl. Karl zieht sich seine Jacke über. „Ich will doch keine Nackenstarre. Hole mir ja sonst noch den Tod.“
Bernhard schaut auf seinen Pullover, dann zu Karl.
Mannfred brummt. „Den Tod holen, jawohl.“
Karl ist in Erzählerlaune. „Dieses wechselhafte Wetter. Erinnert mich an Irland, wisst ihr. War dort drüben und habe für meine deutschen Kollegen eine Fabrik aufgebaut.“ Bernhard zündet sich eine neue Zigarette an.
„Die Arbeiter wissen nicht was gut ist. Alles faule Kerle. Das sage ich euch jetzt. Kamen immer zu spät. Weil die mussten ja an der Barriere warten, wenn der Sieben-Uhr-Zug vorbeigekommen ist. Anstatt dass ihr drei Minuten früher aufgestanden wärt, habe ich zu ihnen gesagt. Aber sie kamen auch nach drei Wochen immer noch zu spät. Und in der Fabrik war Rauchverbot. Überall. Und sie haben trotzdem geraucht.  Oh ja. Ratet mal. Ratet mal wo...“
Mannfred nuschelt etwas.
„Wie? Nein, auf der Toilette. Pinkeln mussten sie nie, aber rauchen. Ja, das mussten sie. Hab’s ihnen gesagt. Haben immer noch geraucht. Hat ja gestunken, hab’s ja gemerkt. Hab die Tür ausgehängt, jawohl, hab ich. Versteckt hab ich sie. Die Tür, wisst ihr.  Und dann war fertig. Wenn sie bei offener Tür ihr Geschäft machen mussten, haben sie nie gepafft. Der Charlie hätte ja vorbeikommen können.“
„Jetzt regnet es.“ Mannfred betrachtet, wie die Regentropfen die Sonnenstore dunkel färben. Bernhard, der außerhalb sitzt, wird langsam nass.
„Der Petrus hat einen schlechten Tag erwischt. Oh je, der arme Ueli. Wenn er morgen ans Himmelstor klopft und Petrus mies gelaunt ist. Armer Tropf. Kann gleich direkt sein Billet abholen: Ein halbes Hölle einfach, seid so gut. Knips und weg ist er.“
„Warum will der Ueli sterben?“, fragt Mannfred.
„Ja, das wüsstest du gern. Und du auch, gell, Bernhard.“
Dieser grunzt leise.
Karl lacht laut. „Der Ueli will nicht zügeln. Hat die Nase voll. Die wollen ihn auf den Rütihubel tun. Aber das will er nicht. Hätte ich auch nicht gewollt. Armer Ueli. Mich tun sie nicht in den Rütihubel. Ich kann noch laufen. Ich hab der Elsa gesagt: Ohne mich. Die hat mich angeschaut, als sei ich ein richtiger Geist. Sie mit ihren großen Augen. So große Augen. Aber  ich bin ja nicht von gestern. Hab gestürmt, hab ich. Jetzt komme ich ins Stadtheim. Einerzimmer. Balkon. Pfiffige Schwestern. Wieso müssen die auch renovieren. Ja, ja, der Ueli. – Berni, du kommst auch auf Rütihubel rauf, oder?“
Bernhard schnauft.
„Bist halt nicht so ein Stürmi, Bernhard. Schade. Soll einsam sein dort oben, habe ich gehört. Man erzählt sich von den Stiftsschwestern, dass sie mit strengen Mienen und schwarzen Röcken durch die Gänge eilen.“
Karl lacht. Bernhards Hemd ist völlig durchnässt.
„War bloß Spaß. Ein kleiner Spaß.“ Karl lacht immer noch. Seine gelben Zähne und die dünnen Lippen zittern. „Armer Bernhard. Armer Ueli. Sie müssen ins Loch. Komm, wir gehen rein, es zieht. Und der Bernhard ist ganz nass geworden. Gell Bernhard.“
Der Rollstuhl knarrt und die Schiebetür surrt. Mannfred bleibt sitzen und schaut ins Leere. Das Stück Blätterteigkuchen liegt angefangen auf seinem Teller. Am Boden liegt Bernhards Pullover.

Am nächsten Tag brennt eine Kerze im Foyer. Nicht für Ueli. Das Namensschild lügt nie. „Bernhard Hugentobler, 1919–2006.“ Irgendwie mochte ich ihn, den alten Bernhard, der nie etwas sagen konnte. Nun ist er also tot. Er muss nicht auf den Rütihubel.
Heute ist es ist richtig kalt geworden. Ich habe das Gefühl, dass der Winter sich dieses Jahr ein erstes Mal in mein Herz geschlichen  hat.
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