Copyright by Jonas Martin Schneider, CH-2011
Dieses Jahr verbringe ich Heiligabend im Zug. Irgendwo muss ich ja sein, oder? Nur nicht zu Hause, das will ich nicht mehr. Das letzte Mal als ich Heiligabend in meiner Wohnung verbracht habe, war vor drei Jahren. Es war eine Katastrophe, ich erinnere mich noch gut. Um halb drei kam meine Schwester, von einem lästigen Pflichtbewusstsein getrieben. Obwohl sie weiß, dass ich kein Interesse an Kontakt mit ihr habe, sucht sich mich in regelmäßigen Abständen heim, zur Beruhigung ihres Gewissens.
An den Weihnachtstagen versucht der Mensch durch gute Taten und aufgesetzte Nettigkeiten für die Untaten seines Lebens zu büßen.
Ja, ich erinnere mich noch gut. Wir sassen da, vor dem leeren Küchentisch, denn ich hatte ihr nichts offeriert. Sie sprach von der Familie oder so und wohl von den Kindern und ihrem Mann.
Währenddessen sah ich zum Fenster hinaus und beobachtete im Fadenkreuz der Fensterstreben, wie ein schwarzer und ein weißer Mann gemeinsam auf der Bank des Bushäuschens sassen und in regelmässigen Abständen auf den Boden spuckten. Als sie gingen, hatten sich zwei Pfützen gebildet. Sie gehörten zusammen, das sah man, obwohl sie kein Wort gesprochen hatten. Im Gegensatz zum Gespräch mit meiner Schwester blieben als Resultat ihrer Kommunikation wenigstens Spuckreste übrig.
Nachdem sie endlich gegangen war, dachte ich schon, ich hätte es geschafft. Aber um fünf kamen Candiottos von nebenan und brachten Pannetone. Dabei hasse ich Pannetone wie die Pest; sie trocknet einem den Hals aus bis man nicht mehr atmen kann und als ob das nicht genug wäre, verklebt sie ihn zum Schluss noch mit gelben Rosinen, die so widerlich nach Katzenpisse riechen.
Na gut, von meiner Pannetonephobie konnten Candiottos nichts wissen, aber was in aller Welt hatte die geritten, mir überhaupt etwas schenken zu wollen? Ich nahm das Ding, schloss die Tür zu und stellte es auf den Balkon, so dass Frau Candiotto von ihrem Küchenfenster aus sehen konnte, wie die Vögelchen sie aufpickten. Ja, dachte ich, dann haben die Vögelchen wenigstens etwas zu Fressen und ich werde nicht mehr belästigt.
Von wegen. Um sieben klingelte es erneut und zwei Damen von der Heilsarmee begehrten Einlass. In dem Moment wusste ich, dass dies mein letzter Heiligabend zu Hause sein würde. Ich knallte die Tür sogleich zu und verkroch mich in mein Schlafzimmer. Es ging bestimmt eine halbe Stunde, bis die ihr beschwörendes Bekehrungsgeflüster aufgaben und mich in Ruhe ließen. Vorsichtshalber stopfte ich mir Wachsbällchen in die Ohren, um die Klingel erst gar nicht mehr zu hören und setzte mich mit meinem Nachtsichtgerät ans Küchenfenster, um die Katzen auf den Dächern zu beobachten. Murr, so nannte ich den großen alten Kater, hatte Besuch von zwei jüngeren, einer schwarz wie die Nacht und kaum zu erkennen, der andere grau getigert, wie Murr. Sie sassen da, nebeneinander und taten nichts. Wie schön. Zum ersten Mal etwas Besinnliches an jenem Tag.
Das war also das letzte Mal, dass ich Heiligabend zu Hause verbrachte, denn im folgenden Jahr mietete ich vorsichtshalber eine Alphütte. Aber weil ich nicht wusste wie man den Ofen in Gang setzte, holte ich mir eine Lungenentzündung und lag drei Wochen im Krankenhaus.
Deshalb ließ ich mich letztes Jahr in einem Kaufhaus einschließen. Wenigstens geheizt, dachte ich. Alles begann gut und es schien die erste fröhliche Weihnacht meines Lebens zu werden. Ich fand Gesellschaft bei den stolzen Schaufenster-puppen, reihte mich in die ausdruckslosen Blicke der Teddybären ein und schlenderte durch die Regale, glücklich, ein unbedeutender Teil dieser Waren zu sein, die, der Name sagt es, nicht mehr sind, aber waren. Aus Leben gemacht und tot geworden.
Leider kam dann dieser Nachtwächter und als ich ihm das mit den Waren erklärte, nahm er mich mit auf die Polizeiwache und die wollten so viele Dinge wissen, nur nichts von Schaufensterpuppen und Waren. Wenigstens durfte ich die Nacht in einer Zelle verbringen und die war warm und es war ruhig. Aber die Bibel auf dem Nachttischlein erinnerte mich an die beiden Frauen von der Heilsarmee und mir schauderte. Am nächsten Tag ließen sie mich gehen.
Für dieses Jahr musste ich mir etwas Neues aussuchen, die Sache mit dem Warenhaus war mich nämlich teuer zu stehen gekommen. Deshalb stieg ich heute Morgen in meine braunen Strümpfe und meinen karierten Rock, zog meine oranges Wolljäcken an und meine alte schwarze Windjacke, nahm einen leeren Rucksack mit und ging zum Bahnhof, wo ich mir am Automat eine Tageskarte kaufte.
Ich bestieg den Zug nach St. Gallen, zuhinterst, dort wo am wenigsten Leute sitzen und suchte mir in ein rückwärtsfahrendes Zweierabteil, dessen Fenster dank einer Strebe kaum Aussicht bot, denn die Menschen fahren nicht gerne rückwärts oder wollen mindestens die Landschaft anschauen. Ich stellte den leeren Rucksack auf den Fensterplatz und setzte mich selbst gangseits, klappte das Tischlein auf, legte mein Kartenspiel aus und begann Solitär zu spielen. So würde mich hoffentlich niemand stören. Vorsichtshalber hatte ich gestern zusätzlich drei Zehen Knoblauch gegessen, das sollte reichen.
Jetzt sitze ich also schon eine ganze Weile da und freue mich, dass mich hier niemand stören kann. Keine Schwester, keine Nachbarn, keine Heilssoldatinnen, keine Nachtwächter und Polizisten. Wenn man irgendwo mitten unter Leuten allein sein kann, dann in einem Schweizer Zug.
Zu Beginn ist der Zug noch leer, aber langsam steigen immer mehr Leute mit Koffern, Taschen und Rucksäcken ein, belegen einen Sitz nach dem anderen. Mein Plan scheint aufzugehen, bei mir will niemand sitzen.
Trotz all der Leute bleibt es gespenstisch still im Wagen. Nur hie und da das Rascheln einer Zeitung, geraunte Worte, leises Schmatzen, gedämpfte Laute aus Kopfhörern; darüber summen die Motoren des Zugs, monoton und friedlich. Keine Absichten, keine Gefühle, die alles kaputt machen könnten.
Wir erreichen Zürich und mein Plan wird ein erstes Mal durchkreuzt. Ich habe natürlich vergessen, dass die Züge in einem Sackbahnhof wenden. Also geht es vorwärts weiter.
Am Flughafen steigen noch viel mehr Leute ein. Der Zug ist jetzt brechend voll, drei Junge mit Snowboards müssen bereits stehen. Doch der Sitz neben mir bleibt leer.
In Winterthur kommen noch mehr Passagiere. Ich muss frei machen und rutsche auf den Fensterplatz. Eine junge Frau setzt sich hin, mit einem Bund getrockneter Ähren, in Packpapier eingewickelt. Die armen Dinger. Bestimmt sind sie dazu verdammt an einem Weihnachtsbaum zu baumeln und von irgendwelchen Familien mit erzwungenem Lächeln angeglotzt zu werden.
In St. Gallen leert sich der Zug. Jetzt fahre ich wieder rückwärts. Draussen regnet es und ich freue mich ein bisschen, dass all die Wünsche für weisse Weihnachten nicht in Erfüllung gehen. So viel Hoffnung, so viele vergeudete Gefühle. Wofür? Für kristallisiertes Wasser, das sich auf der Erde ablagert. Die Leute sagen, Schnee sei schön. Woher wissen sie das? Ich sage, Schnee ist weiß. Und kalt. Und nass.
Ab Zürich fahre ich wieder vorwärts. Neben mir schaukelt ein anderer Zug aus dem Bahnhof. Milano steht drauf. Meine Schwester hat bestimmt Mailänderli gemacht. Und Candiottos Pannetone.
Ab Genf fahre ich wieder rückwärts und in Olten habe ich schon eine Runde geschafft und döse ein.
Mit einem Ruck hält der Zug in Zürich an.
„Ist da noch frei?“, fragt eine zögerliche, leise Stimme. Ich tue so, als ob ich schlafen würde.
Noch leiser: „Entschuldigung, ist da noch frei?“
Ich beschließe den Frontalangriff, mache die Augen ruckartig auf und blicke mich um. „Nein!“
Ein Kind schaut mich erschrocken an. Auch das noch. Wenn es etwas gibt, das ich noch mehr hasse als Pannetone, dann sind es Kinder. Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Keine Ahnung, es sieht aus wie beides. Wie alt ist es? Das kann man bei denen nie sagen. Es trägt ein schwarzes Mäntelchen, ein gleichfarbiges Mützchen, unter dem einige blonde Strähnen in sein blasses Gesicht fallen und schleppt einen Koffer, den es kaum tragen kann.
„Da sitzt aber niemand“, sagt es leise.
„Nein“, sage ich und merke, dass ich die falsche Antwort gegeben habe.
„Na gut,“ sage ich. „Aber ich will kein Wort von dir hören. Keinen Mucks.“
Das Kind nickt.
„Können Sie mir helfen, den Koffer hochzuheben? Er ist so schwer.“
„Nein.“
„Aber ich kann ihn nicht hochheben.“
„Nicht mein Problem.“
Flehend: „Bitte!“
„Na gut…“ Verdammt. Jetzt habe ich schon wieder etwas gesagt was ich nicht wollte. Ich hebe den Koffer hoch ins Gepäcknetz. Das Kind setzt sich neben mich. „Und jetzt bist du still, verstanden?“
„Ich heiße Kim“, sagt das Kind. „Der Name ist doof. Weil Namen etwas bedeuten sollen aber Kim bedeutet nichts. Deshalb bin ich auch nichts.“
Ich schaue Kim böse an und frage mich, ob Kim ein Mädchen oder ein Jungenname ist. Ich weiß es nicht. „Wenn du nichts bist, warm redest du dann?“
Kim schluckt. „Entschuldigung.“
Ich nicke unzufrieden und schaue zum Fenster hinaus. So viel habe ich seit Jahren nicht mehr gesprochen. Vielleicht muss ich mir einen anderen Platz suchen. Aber vor einem Kind Reißaus nehmen? Ich gucke aus den Augenwinkeln rüber. Das Kind schaut mich mit großen, hellen Augen an.
„Sind Sie eine Hexe?“
Ich gucke weg.
„Hexen sind doch so. So unfreundlich und mit einer Warze an der Nase.“
Ich habe eine Warze an der Nase? Das wusste ich gar nicht. Den Spiegel in meinem Badezimmer habe ich längst entfernt.
„Und Sie lesen die Zukunft in den Karten.“
„Die Zukunft kann man nicht voraussagen!“
„Dann sind Sie also keine Hexe?“
„Nein.“
„Gut“, sagt Kim erleichtert. „Ich habe nämlich Angst vor Hexen. Aber dann muss ich vor Ihnen keine Angst haben.“
Ich schaue das Kind an. Es schaut zurück.
„Lass mich in Ruhe!“
„Onkel Felix hat mal gesagt, unfreundliche Menschen seien Miesepeter. Er ist Schriftsteller, wissen Sie, und er kennt ganz viele Wörter. Ich weiß nicht was ein Miesepeter ist. Aber ich weiß, was ein schwarzer Peter ist. Wollen wir Schwarzen Peter spielen?“
„Das geht nicht zu zweit.“
„Warum nicht?“
„Lass mich doch endlich in Frieden!“
„Friede auf Erden, singen die Engel. Und den Menschen ein Wohlgefallen.“
„Eben, siehst du. Und du störst ihn, den Frieden.“
„Nein du, weil du ein schwarzer Peter bist.“
„Jetzt willst du noch mir den schwarzen Peter zuschieben?“
Die Augen des Kindes hellen sich auf. „Willst du doch spielen?“
Ich schüttle den Kopf. „Ach so, du meinst ich sei ein Miesepeter. Ja, das bin ich. Eine Miesepetra.“
„Heisst du Petra?“
„Ja.“
„Onkel Felix hat gesagt, Peter heißt Stein. Du bist auch wie ein Stein.“
„Das ist fast ein Kompliment“, sage ich und muss lächeln.
„Ich mag Steine. Ich habe ganz viele Steine zu Hause. Edelsteine.“
„Ich bin nicht edel.“
„Warum weißt du das?“
„Ich weiß es einfach.“
„Onkel Felix sagt immer, das sei keine Antwort.“
„Komm mir nicht mit den Weisheiten von Onkel Felix“, rufe ich zornig. Die Menschen in den Nachbarabteilen schauen uns skeptisch an.
„Du bist aber ein bisschen wie Onkel Felix. Der denkt auch ganz viel.“
„Wer sagt denn dass ich viel denke?“
„Das sieht man doch!“, meint Kim und lächelt. „Du musst alles aufschreiben.“
„Was?“
„Na alles!“
„Was alles?“
Was du denkst!“
„Ach so. Warum?“
„Onkel Fe…“
„Was?“
„Nein. Ich wollte gerade etwas von Onkel Felix sagen.“
„Nun sag schon!“
„Onkel Felix sagt, wenn er aufschreibt, was er denkt, dann wird sein Inneres nach außen gekehrt.“
Ich schaue zum Fenster hinaus. Es hat zu schneien begonnen und die dicken Flocken machen alles weiß, bedecken Felder und Häuser und alles. Der Schnee löscht aus und macht vergessen. Das gefällt mir. Vielleicht finden deshalb die Menschen Schnee schön. Vielleicht feiern deshalb die Menschen gerne Weihnachten. Weil sie alles vergessen können für einige Stunden und das Fest wie der Schnee alle Buckel und Senken verdeckt, allen Schmutz und Unrat verschwinden lässt. Und dann bleibt ihnen Zeit, unbeschwert zu sein. Sie können über sich selbst nachdenken, ohne zu richten. Vielleicht sollte ich das auch. Wahrhaftig, ich bin eine Miesepetra. Aber eine, die gerne nachdenkt. Vielleicht hat das Kind Recht. Vielleicht sollte ich das wirklich aufschreiben. Das geschriebene Wort steht einfach da, schwarz auf weiß. Ohne sich zu verändern reihen sich Worte zu Sätzen und jeder kann sich alles dazu denken, was er will ohne dass es einen anderen stört.
Ja, das werde ich tun. Diese Gedanken aufschreiben. Und dann sende ich sie meiner Schwester. Und Candiottos schiebe ich sie unter der Tür durch. Und den Soldatinnen will ich sie in den Spendenkorb legen. Und die Adresse der Warenhausdirektion und der Polizei habe ich auch noch, in den Gerichts-unterlagen. Vielleicht verstehen sie dann, warum ich Weihnachten so feiern will, wie ich es tue. Allein mit meinen Worten.
Danke Kim, denke ich und drehe mich um. Aber da sitzt niemand und es liegt auch kein Koffer auf der Gepäckablage.
Ich muss lächeln. Heute bin ich für einmal im Frieden mit der Welt.
Petra Hagendorn, 24.12.2011