Die vorliegende Geschichte diente als Grundlage für das Musiktheater "Bergatroll", welches von 2012-2014 an der Mittelalterwoche auf Gotland (Schweden) von der Gruppe "Koenix" aufgeführt wurde.
Copyright by Jonas Martin Schneider, CH-2012
Vor vielen Tagen brachen sieben Spielmänner auf, aus einem weit entfernten Land im Süden, aus einem Land in dem die Berge dreimal so hoch sind wie hier in Schweden. Wild und schroff erheben sie sich in den Himmel und zwischen ihnen graben die Bäche schmale Täler in die Felsen.
Die sieben Spielmänner sind den ganzen Weg nach Gotland gereist, trotzten Überfall, Hunger und Seekrankheit, um euch an den Liedern und Geschichten aus ihren Tälern teilhaben zu lassen. Eine dieser Geschichten ist jene des Berggeistes vom Salzberg.

Am Ende des Kientals liegt die Griessalp und nicht weit davon gab es früher eine Saline. Salz war in den alten Zeiten überlebenswichtig und wer es abbauen konnte, dem war Reichtum sicher. So ging es auch dem Bergmann Hans, als Obmann der Minen der wohlhabendste Mann des Tals.
Salzhänsel, wie man ihn nannte, hatte eine Tochter, die war nicht nur schön und klug sondern auch eine richtige Frohnatur. Sie hiess Verena, aber meist wurde sie das Salzvreneli genannt.
Natürlich hätte jeder junge Bursche das Salzvreneli gerne für sich gehabt, aber sie hatte nur Augen für den Schafhirten Hannes von der Griessalp. Ganze Sommertage verbrachte sie auf seiner Weide und lauschte den Liedern seiner weichen Stimme. Gerne hätten sie Hochzeit gefeiert, aber der Salzhänsel wollte davon nichts wissen. „Geh du erst einmal und werde ein stattlicher Mann mit einem rechten Vermögen, dann wollen wir weitersehen“, sagte er und damit schien für ihn die Sache erledigt zu sein.
Hannes tat drei Nächte lang kein Auge zu. Dann ging er zu Vreneli und teilte ihr den Entschluss mit, in die Welt zu ziehen um als reicher Mann zurückzukehren.
Vreneli war untröstlich. „Ich warte auf dich. Aber bleib noch ein wenig da, Liebster.““, flüsterte sie, als Hannes sich in der Nacht vor der Abreise heimlich in ihre Kammer begeben hatte.

Hannes ging und Vreneli wartete auf seine Rückkehr. Ein Winter verging, dann ein zweiter und ein dritter. Doch kein Hannes kam den schmalen Weg ins Kiental hoch, an dem Vreneli jeden Abend wartete.
 Die Menschen im Dorf lachten sie aus und riefen ihr nach, bestimmt sei er von Räubern erschlagen worden, liege in einem einsamen Strassengraben irgendwo im Welschland, von Bartgeiern zerfleddert und vom Herrgott verlassen.
Eines Abends fragte sie ihren Vater nach Hannes‘ Verbleib und er sagte mit etwas schlechtem Gewissen, er glaube nicht an dessen Rückkehr. Vielleicht habe er Arbeit gefunden, wahrscheinlicher aber sei, dass er mit einer anderen durchgebrannt sei oder gefallen im Krieg.
Als Vreneli das hörte, wurde sie von einer bleiernen Traurigkeit erfasst. Tränen rannen ihr das Gesicht herab, als sie von ihrem unberührten Abendbrot aufstand und zum Haus hinaus rannte. Sie schlug den Weg zum Gwindlibach ein, der Seilbahn entlang, mit der die Mineure das Salz den Berg hinab brachten und hin zu den zerrütteten Baracken vor dem Mineneingang am Schärsax. Mit einer alten Kerze stolperte sie ins Loch und stieg hinab mit dem festen Vorsatz, nie wieder das Tageslicht zu erblicken. Der Weg führte sie Ebene um Ebene in die Tiefe, bis sie im hintersten Zipfel des Chististollens zu Boden sank und die Kerze ausblies um zu sterben.

Es war eine seltsame Fügung, dass eben zu jener Abendstunde ein Berggeist der Mine seinen Besuch abstattete. Als Bergkönig dieses Felsmassivs gebot er über die Natur in der Region und alle anderen Naturgeister waren ihm untertan. So war er immer mal wieder unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen.
Als er das todtraurige Mädchen da liegen sah, dauerte es ihn. Schnell nahm er menschenähnliche Gestalt an und stellte sich behutsam als Hüter dieser Berge vor. Vreneli fürchtete sich sehr, als der fremde Mann mit einer Laterne auf sie zutrat, aber er war gut zu ihr und fragte, was sie plage. Nach einer Weile erzählte sie ihm alles. Der Berggeist hatte Gefallen an Vreneli gefunden und machte ihr einen Vorschlag. „Wenn du willst, würde ich dich gerne zu meiner Frau nehmen. Bei mir würdest du es gut haben und könntest die Sorgen eurer Welt vergessen!“ Vreneli schaute auf in die glimmenden Augen des Berggeistes und antwortete: „Was ist schon dabei. Ich heirate dich, aber erst, wenn ich wieder froh geworden bin!“
Also nahm der Bergkönig das Salzvreneli in den Arm und trug es hinab, durch Schlunde und Kristallhöhlen, vorbei an unterirdischen Flüssen und Seen, tief hinein in sein Reich. Noch in derselben Nacht stürzte der Chististollen ein.

Hannes aber war immer noch unterwegs. Reich war er nicht geworden, aber er hatte überlebt, denn seine Stimme und seine Flötenkunst war einigen Spielleuten aufgefallen, die ihn dann mitgenommen hatten. So wurde die Strasse zu seiner Heimat und er vergass das Kiental und sein Salzvreneli jeden Tag ein Stück mehr, bis die Erinnerungen verblasst waren. Doch der Westwind liess ihm keine Ruhe, drängte ihn zum Weiterziehen führte ihn ganz unbewusst langsam wieder zurück in heimatliche Gefilde.

Eines Morgens stand er plötzlich an der alten Wegscheide, die in das Tal führte, welches einmal seine Heimat gewesen war. Da fiel ihm auf einen Schlag alles wieder ein und er fasste einen Entschluss: Ganz egal wie arm er war, er wollte sein Mädchen fragen, ob es nicht mit ihm gehe.
Er verabschiedete sich von den Spielleuten und eilte der Kander entlang, gelangte schliesslich ins Kiental und dort zum Haus des Salzhänsels.
Jener erkannte Hannes nicht aber erzählte ihm schwermütig, seine Tochter sei vor einigen Wochen bei einem Stolleneinsturz in den stilgelegten unteren Ebenen der Salinen ums Leben gekommen weil sie um den Liebsten getrauert habe, den er in die Fremde geschickt habe. Nun sei die Mine bis auf weiteres gesperrt und er sei ein gebrochener Mann.
Bestürzt eilte Hannes trotz allen Warnungen zu den Minen, stieg ein und wanderte durch die Düsternis. Unheimliche Geräusche drangen an sein Ohr. Mehr als einmal bildete er sich ein, ein Klopfen gehört zu haben und auf der dritten Ebene war er sich sicher, ein Licht zu sehen. Endlich wurde er des verschütteten Stolleneingangs gewahr, setzte  sich nieder und begann seine traurigste Weise zu spielen.
Auf einmal hörte er neben sich eine nörgelnde Stimme. „Kannst du nicht was Anderes spielen?“ Ein Steinwicht stand neben Hannes und musterte ihn mit gerümpfter Nase. „Das verdirbt mir die ganze Laune. Schön ist es ja, aber viel zu traurig. Wie wär’s mit etwas Lustigem?“
„Ich hab‘ keinen Grund dazu“, sagte Hannes bedrückt.
„Aber ich“, konterte der Wicht. „Der König dieses Berges möchte nämlich seine Verlobte heiraten, aber sie ist so unfassbar traurig, dass er sie unmöglich in diesem Zustand ehelichen kann. Also hat er mich ausgeschickt um nach Gauklern und Musikanten Ausschau zu halten, die ihr ein Lächeln ins Antlitz zaubern können. Schaffst du es, wirst du reich belohnt.“
Der Spielmann, seiner bisherigen Ziele beraubt, fand keinen Grund, das Angebot auszuschlagen und folgte dem Wicht durch eine schmale Felsspalte auf eine abenteuerliche Reise in die Tiefe.

Die Feuerhalle war der Thronsaal des Berggeistes und festlich geschmückt. An den Tropfsteinen waren Lampions und farbige Bänder befestigt. Rund um den Thron verliefen tiefe Kanäle, durch welche Lava rann und so der Halle ihren Namen gab. Verschleiert sass das Salzvreneli in festlichen Kleidern auf dem Thron und schaute sich einen Gnomen an, der mit Feuer allerlei Kunststücke aufführte, begleitet von Erdgeistern mit grossen Sackpfeifen.

Die Darbietung schien Vreneli keine Freude zu bereiten. Sie starrte zu Boden. Der Bergkönig seufzte und beobachtete bekümmert die Bühne. Eben wurde Hannes durch den Steinwicht in die Halle geführt. Ehrfürchtig trat er vor den Berggeisterthron und hub zu einem Lied an.

Als Vreneli die glockenhelle Stimme ihres Geliebten erkannte, hob sie den Schleier, sprang mit einem Satz über den Magmagraben vom Thron herunter in Hannes Arme. Über beide Backen strahlend herzte sie ihren Liebsten, froh, ihn wiedergefunden zu haben.
„Nun kannst du dein Versprechen ja einlösen und mich heiraten!“ erklang des Berggeist Stimme. Unbemerkt war er neben Vreni getreten. „Dein Glück ist zu dir zurückgekehrt, auch wenn ich es auf diese Weise nicht erwartet hätte. Aber das Schicksal geht seltsame Wege. Spielmann, du sollst deinen Lohn kriegen – ich halte Wort.“ Er reichte Hannes einen schweren Säckel mit Goldstücken. „Aber ich kann nicht zulassen, dass du gehst und meine Braut erneut unglücklich machst. Deshalb bist du mein Gefangener.“

Vrenelis Lebensgeister waren erwacht. Auch wenn ihr Liebster gefangen war, so war er doch nah und es bestand Hoffnung. Zaghaft wuchs ein Plan in ihrem Innern.
Die Vorbereitung für die grosse Hochzeit begann sofort. Vreneli zeigte auf einmal eine ganz und gar neue Nähe für ihren zukünftigen Gemahl, schmiegte sich an ihn und folgte ihm fast überall hin. Der Berggeist war erfreut und dachte, sie hätte sich jetzt endlich mit ihrem Los abgefunden. So schöpfte er keinen Verdacht, als Vreneli ihn bat, die Organisation für die Feier zu übernehmen und sie doch im Freien beim Minenausgang zu halten. Das sei ein idealer Platz für die Vermählung eines Berggeistes mit einer Menschenfrau. Er willigte ein. Es sei ja Nacht, meinte er, da würden sie von den Menschen nicht gesehen. Auch gewährte er ihren Wunsch, den Spielmann Hannes das musikalische Programm gestalten zu lassen.

Endlich kam der grosse Tag, der im ganzen Erdreich mit Spannung erwartet worden war. Zahlreiche Trolle hatten eine grosse Tribüne in den Felsen errichtet und vor dem Mineneingang stand ein steinerner Altar. Viele hundert Gäste waren gekommen, um das Fest zu erleben. Eine Feenpriesterin war extra von der Blüemlisalp angereist, um die Trauung vorzunehmen. Vreneli nahm den Berggeist an der Hand und führte ihn vor den Altar. Zu Beginn der Zeremonie spielte ein Orchester von Zwergen eigentümliche Musik. Aber dann erklang Hannes glockenhelle Stimme. Alle drehten ihre Augen im zu. Er stand in der Gondel der alten Seilbahn und sang eine alte Weise.

Der Berggeist, ganz gebannt, hatte nicht bemerkt, dass Vreneli seine Hand losgelassen hatte. Als des Spielmanns letzter Ton verklungen war, hüpfte Vreneli eben zu ihm in die Gondel. Hannes löste den grossen Bremsklotz und das Gefährt begann ins Tal zu sausen. „Lebt wohl!“, hörten die Gäste, als die Braut ihren Blicken entschwand. Da wusste der Berggeist, dass sie ihn verraten hatte. Er brüllte so laut, dass sogar die feinen Herren in Spiez aus ihrem Schlaf erwachten. Dann packte er mit beiden Händen das Seil der Bahn und riss es entzwei. Nichts hielt die Gondel noch in der Luft und sie stürzte in die Kronen der Fichten und schliesslich auf die Erde. Benommen krochen Vreneli und ihr Spielmann unter den Trümmern hervor. Die Masten der Seilbahn waren samtsämtlich umgeknickt.
Eine gespenstische Horde rauschte den Berg hinunter, angeführt vom Bergkönig. Der Zorn liess sein Haar in wildem Feuer lohen. Hinter ihm, wuselten und stolperten und kugelten die Zwerge, Wichte, und Gnome, zischten die Grubenmönche, Salamander und Wische dem verängstigen Paar entgegen.

„Über den Bach“, schrie Vreneli, „dort endet seine Macht!“ Aber wie? Keine Zeit zum Überlegen. Die beiden rannten los. Immer näher kam der Berggeist, streckte bereits seine langen Arme aus, das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzerrt.
Da sah Hannes ihn liegen, den umgeknickten Mast. Er lag quer über die Griesschlucht. Er riss Vreneli mit sich, die letzten Meter talwärts und balancierte mit ihr über die Fluten. Doch schon hatte der Berggeist das Ufer erreicht und schlug mit aller Macht auf den Balken, sodass der in tausend Stücke zersplitterte. Hannes und Vreneli fielen in die schäumenden Wasser.
Hannes fühlte, wie er nach unten gezogen wurde, aber er liess Vrenelis Hand nicht los und plötzlich konnte er wieder atmen, stiess sich an einem Stein ab und zog sich und seine Liebste auf die andere Uferseite.
Drüben stand der Berggeist und stiess die übelsten Verwünschungen aus. Er hob die Faust. Augenblicklich zogen finstere Wolken auf und im Nu begann es zu giessen. Blitze und Donner krachten durch das Kiental, noch als Vreneli und Hannes aus der Schlucht kletterten. Sie sahen, wie sich die Felsmassen am Schärsax lösten, den Mineneingang verschütteten und dann ins Tal hinabstürzten. Wenige Meter vor dem Talboden kam die Lawine zum Stillstand.
Gerettet!

Man erzählt sich, man habe im Kiental noch nie ein so schreckliches Unwetter erlebt. Die Mine blieb verschüttet und den Eingang fand man nie wieder. Das Gwindlibachtobel unter dem Schärsax aber steht bis heute unter dem Ruf, nicht ganz geheuer zu sein. Sonst erinnert nichts mehr an die Geschichte von damals ausser der Name des Gipfels über der Geröllhalde: das Salzhore.

Das Salzvreneli und der Spielmann Hannes aber wollten nicht mehr in ihrem Heimatdorf verweilen. Nachdem Vreneli ihrem Vater alles erzählt hatte, folgte sie ihrem Liebsten in die weite Welt hinaus und mit der Belohnung, die Hannes vom Berggeist erhalten hatte, reisten sie in den weiten Norden, wo es keine Berge mehr gab. Man munkelt, sie seien bis an die Ostsee gelangt und hätten dort auf einer verwunschen Insel, mitten in einer zauberhaften Stadt, in einer wunderschönen Kirche geheiratet. Sicher ist jedoch, dass sie später wieder auf Hannes‘ Spielmannstruppe trafen, die versprach, ihre Geschichte in die Welt hinauszutragen.

Picture by Madeleine Bergmann.

Picture by Madeleine Bergmann.

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